Emigration

Von Ulrich Stähli-Fardel

Aus der Chronik der Burgergemeinde Brienz (Ergänzungen in Klammern) "1868: Es werden immer mehr Gesuche um Unterstützung zur Auswanderung gestellt. Johann Flück (1811-1898, Schopfer) sucht um eine solche Unterstützung nach zur Auswanderung nach Nordamerika. Er weist darauf hin, dass die Fahrtaxe für das Schiff bis ans Endziel seiner Reise bereits bezahlt sei. Sein Wohnhaus im Kienholz konnte nicht verwertet werden und so fehle ihm noch das Restgeld für die Fahrt von hier bis nach Hamburg. Da es sich um einen Notfall handelt, wird beschlossen, dem Bittsteller Fr. 30.-- zu schenken und zu diesen noch denselben Betrag vorzuschiessen. Flück wandert mit seinen Söhnen (Heinrich und Robert) aus. Seine Frau (Margaretha, geborene Gruber) muss hier bleiben, bis sie das Haus verkaufen kann. Die Burgergemeinde verkauft ihr ein Stück Land (wahrscheinlich finanziert durch ihren Mann und die Söhne in Amerika), worauf Frau Flück die Liegenschaft verkaufen und ihrem Mann und den Söhnen nach Amerika folgen kann (zusammen mit den Kindern Margaretha, Jakob und Peter). Die erwähnten Fr. 30.-- werden ihr geschenkt."

Aufbruch in die Fremde
Die Brienzer Dorfgeschichte und die Auswanderung gehören zusammen wie die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft. In der Mitte des 19. Jahrhunderts war die Schweiz das Armenhaus Europas. Zehntausende wanderten damals aus wirtschaftlicher Not aus. Bevölkerungsdruck, Unterbeschäftigung und Armut aber auch persönliche und familiäre Beweggründe waren damals ausschlaggebend. Das Ausmass der Emigranten war deutlich höher als in anderen europäischen Ländern. Da die Last der Armenunterstützung bei den Gemeinden lag, begrüssten und unterstützten die lokalen Behörden die Auswanderung, um die Armenkasse zu entlasten.
Auch aus Brienz und den umliegenden Gemeinden entschieden sich zahlreiche Einzelpersonen und Familien, ihre Heimat in der Hoffnung auf bessere Aussichten zu verlassen. Kaum eine der alteingesessenen (Burger-) Familien hat deshalb nicht irgendwo im Ausland nahe oder entfernte Verwandte, deren Vorfahren zwischen 1850 und der Jahrhundertwende ausgewandert sind. Am beliebtesten war als Zielland Nordamerika, das für 4/5 der Schweizer Übersee-Auswanderer die Wunschdestination darstellte und wo im erwähnten Zeitraum ein Konjunkturaufschwung stattfand. Nicht alle Auswanderer reüssierten auf Anhieb. Wie Lebensläufen aus der damaligen Zeit entnommen werden kann, waren bei vielen die ersten Jahre nach der Auswanderung von Entbehrung und harter Arbeit geprägt. Vor allem die ersten Winter waren besonders prekär. Man unterstütze sich gegenseitig so gut als möglich und verbrachte die erste Zeit oft mehr als zu zehnt in engen Wohnräumen. Staatliche Hilfe existierte in der neuen Heimat nicht. Einzige Ausnahme bildete der „Homestead Act“, welcher 1862 in den USA in Kraft trat. Wer mindestens 21 Jahre alt oder Familienoberhaupt war, konnte zu einem symbolischen Preis ein Stück Land erwerben. Nach fünfjähriger Kultivierung wurde man automatisch zum Eigentümer dieses Grundstücks.

Stellvertretend steht nachfolgend die Geschichte der Familie Flück (Schopfer)
Johann Flück jun. (1838-1937) ältester Sohn der Familie, hörte, dass im Frühjahr 1856 eine ganze Gruppe aus Brienz nach Amerika auswandern wolle. Darunter war Peter Kienholz-Schild (1813-1884) mit seinen 7 Kindern. Kienholz hatte im Jahr zuvor seine Gattin bei der Geburt des jüngsten Kindes verloren. Der Gruppe gehörten auch die Familien von Johann Schild-Eggler, Melchior Eggler mit seinen 3 Kindern und Ulrich Thomann an. Eggler war ebenfalls Wittwer.
Johann Flück jun., damals 18 jährig, hatte bisher in der Gerberei seines Vaters gearbeitet (wahrscheinlich im Dorfteil genannt „Gärbi“). Er beschloss, sich dieser Gruppe anzuschliessen. Als Vater Flück feststellte, dass es seinem Sohn mit diesem Anliegen ernst war, machte man sich an die Reisevorbereitungen. Bei einer Auswanderungsagentur wurden die nötigen Reisedokumente beschafft und bei einem Schneider zwei neue Anzüge bestellt. Einer für werktags und der zweite für den Sonntag. Sein alter Anzug war für die Reise bestimmt. Er sollte nach der Ankunft in Amerika entsorgt werden. Die Reise kostete ca. Fr. 200.-- für Erwachsene und ca. Fr. 140.-- für Kinder. Ein Taglöhner verdiente zu dieser Zeit zwischen Fr. -.50 und Fr. 1.--.

Mit ca. Fr. 10.-- Taschengeld reiste Flück zusammen mit der Gruppe am 3. März 1856 von Brienz ab. Zuerst mit dem Schiff nach Interlaken, dann mit der Kutsche nach Basel und von dort mit der Eisenbahn via Paris nach Le Havre, dem Einschiffungshafen. Das (Segel-) Schiff für die Reise über den grossen Teich verliess am Sonntag, 9. März 1856 Le Havre und kam am 19. April in New York an. Die 42-tägige Reise dürfte beschwerlich gewesen sein. Die Schiffe waren zu dieser Zeit noch nicht speziell für Personentransporte ausgestattet. Der Grossteil der Passagiere verbrachte bei ungünstigem Wetter die Überfahrt gedrängt im Zwischendeck, weshalb die Gefahr bestand, an Typhus oder Cholera zu erkranken.

Foto: Symbolbild Zwischendeck

Von New York reiste die Gruppe per Eisenbahn nach Buffalo und über den Eriesee nach Cleveland, Ohio. Anschliessend mit dem Zug nach Cairo, Illinois, dann mit dem Schiff den Mississippi aufwärts nach Dubuque, Iowa. Die Familien Kienholz, Schild und Eggler fuhren weiter bis nach La Crosse, Wisconsin, wo sie sich schlussendlich niederliessen. In späteren Jahren siedelten noch weitere Familien aus Brienz in dieser Gegend an.

Johann Flück, der weder Englisch sprach, noch diese Sprache lesen und schreiben konnte, fand in Dubuque Arbeit bei einem Bauern. Nach etwa einem Jahr hatte er mit seinem Meister eine Meinungsverschiedenheit, verlangte seinen Lohn und ging. Er zog weiter nach Galena, Illinois, wo er für ein paar Tage bei einem Milchmann arbeitete. Dort erkrankte er am Siedler-Fieber, einer Krankheit, die Einwanderer öfters aufgrund erschwerter Lebensbedingungen (soziale Isolation, schlechte Ernährung, raues Klima) befiel. Er verbrachte einen Monat im Bett. Als er wieder einigermassen gesund war, begab er sich nach La Crosse, um sich mit den dort niedergelassenen Familien zu treffen. Schliesslich fand er bei der Knapp & Stout Company in Menomonie, Wisconsin, Arbeit als Holzfäller und Holzflösser. Der Monatslohn betrug zwischen US$ 14.-- und US$ 16.--. Mit der Perspektive einer sicheren Arbeitsstelle verheiratete er sich im Frühling 1863 mit Magdalena Kienholz, älteste Tochter des 1856 mit seiner Familie ausgewanderten Peter Kienholz. Johann und Magdalena hatten zusammen 15 Kinder, wovon 4 im jungen Alter verstarben.

Foto: Kartenauszug von Dunville, Wisconsin, mit den Grundstücken von Johann (Vater), Johann jun., Jacob und Peter Flück (Flick)

Foto: Knapp & Stout Co., Menomonie, um 1900

Als sich Flück (aus Flück war Flick geworden) in der Gegend einigermassen etabliert hatte, begann er, seinen Brüdern die Übersiedlung nach Amerika zu ermöglichen. 1863 Friedrich, dann Rudolf. Mit ihrer Hilfe kamen anschliessend, wie eingangs erwähnt, Vater Johann, Heinrich und Robert. Allen zusammen war es bald möglich, den Rest der Familie (Mutter und Tochter Margaretha, Jakob und Peter) kommen zu lassen. 1869 war die ganze Familie wieder vereint. Seinem Arbeitgeber Knapp & Stout blieb Johann Flück über 30 Jahre treu. Neben den Ausgaben für ihren grossen Haushalt gelang es den Eheleuten, Geld zur Seite zu legen, 1875 in Dunville , Wisconsin, auf 160 Acker Land (Prärie) ein Haus zu bauen und den Boden in mühsamer Arbeit urbar zu machen. Magdalena Flück-Kienholz verstarb am 16. September 1900. Johann blieb noch bis 1911 auf seinem Heimwesen. Bis zum Tod im Jahre 1937 fand er noch bei zwei seiner Töchter ein Zuhause. Er überlebte alle seine Geschwister. Eine seiner Töchter, Mary Anna (1865-1959), heiratete am 7. November 1885 in Dunn, Wisconsin, den 1881 ebenfalls aus Brienz ausgewanderten Cäsar Flück (Flick), Sohn von Elisabeth Wyss-Flück und Stiefvater Matthäus Wyss.
Johann Flück war eine respektierte und im Alter als „Grandpa Flick“ allseits bekannte Persönlichkeit, die bis kurz vor ihrem Tod aktiv am öffentlichen Leben teilnahm. Er hinterliess 19 Grosskinder, 21 Urgrosskinder und ein Ur-Urgrosskind.

Ulrich Stähli-Fardel

Foto: Johann und Magdalena Flück-Kienholz mit ihrer Familie. Aus heutiger Sicht nur schwer denkbar, wie Magdalena (erste Reihe, zweite von links) einer solchen Anzahl Kinder das Leben schenken konnte.

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Aus dem Leben von Werner Zysset

Es ist ein Nachmittag im März 2024, als Heidi Blatter und Zora Herren (Bericht) bei Mina und Werner Zysset-Leppin an den Küchentisch eingeladen werden. Werner ist vorbereitet auf unseren Besuch, auf dem Tisch liegen zwei Ordner mit Fotos und Dokumenten und auf einem Blatt hat er alle Kleinschreiner, die es 1951 in Brienz gab, aufgeschrieben. Wir zählen 29 Namen!

Drei Videos: Besondere Erinnerungen, erzählt von Werner Zysset (Jg. 1935)

Die Videos sind aufgezeichnet worden am 27. März 2024.  Werner Zysset ist im November 1935 geboren. Heidi Blatter und Zora Herren, vom Team Brienzer Dorfgeschichte, besuchten ihn und staunten, was Werner zu erzählen weiss. Viel Freude beim Schauen!

Das Video "Grossvater" dauert 8 Minuten, die beiden anderen knapp 2 Minuten.  

Alte Filmrollen gesucht

Sie haben Filmrollen mit Filmen von Brienz. Wir möchten das Archiv der Brienzer Dorfgeschichte bereichern mit alten Filmen und diese auch auf der Internetseite für die Brienzerinnen und Brienzer zugänglich machen. Sehen Sie sich im Video unten unseren Aufruf an:

Video: Anekdoten zum Schwandergässli

Kurt Wellenreiter (Jg. 1933) erzählt vom Schwandergässli. Das Video wurde aufgezeichnet am 31. Januar 2024.

Video: Von der Not in Brienz

Kurt Wellenreiter (Jg. 1933) erzählt von der Not in Brienz. Das Video wurde aufgezeichnet am 31. Januar 2024.

Video: Zur AHV-Einführung 1948

Kurt Wellenreiter (Jg. 1933) erinnert sich an die AHV-Einführung 1948, als er noch ein Junge war. Das Video wurde aufgezeichnet am 31. Januar 2024.

Video: Fluebärgler Seegeschichten

Kurt Wellenreiter (Jg. 1933) erzählt vom Leben auf und um den See herum. Das Video wurde aufgezeichnet am 31. Januar 2024.

Eröffnung Autobahn Brienz - Interlaken Ost

Ein Bericht von DRS aktuell vom 18. Mai 1988 zur Eröffnung des Autobahnabschnitts zwischen Brienz und Interlaken Ost. Mit einem Interview mit der Verkehrsdirektorin Dora Andres bei der Brunngasse.